ANDY

Das ist Andy. Andrew Horn. Ich lernte ihn vor mehr als zwanzig Jahren kennen, als ich für den von ihm produzierten Film EAST SIDE STORY den Kommentar gesprochen habe. Danach sind wir uns meist zufällig begegnet, er wohnte bei mir um die Ecke und wir trafen uns hin und wieder beim Sport. Gestern las ich auf Facebook, dass er gestorben ist.
Auch wenn ich Andy nicht gut kannte, macht mich das sehr traurig, weil er ein sehr freundlicher, kluger, neugieriger, witziger und besonderer Mensch war, der sehr besondere Filme gemacht hat.
Mach’s gut Andy.

18. AUGUST 1989

Das ist mein Vater. Die Aufnahmen enstanden 1944 im englischen Exil und 1989 in Ostberlin. Dazwischen ist viel passiert, das sieht man.
Am 18. August 1989 ist er gestorben. Und weil er ZK-Mitglied war, bekam er eine offizielle Trauerzeremonie. Ein hoher Funktionär hielt eine Rede voller abgenutzter Worte, dann trugen sie seine Orden auf roten Samtkissen zu seinem Grab und spielten den Trauermarsch, den sie immer spielten. Ich hatte diese Beerdigungen schon tausendmal im Fernsehen gesehen, doch die hier war anders. Klar, es war mein Vater, den sie zu Grabe trugen, aber das war es nicht. Irgendwie passte diese seltsame Zeremonie nicht mehr in diese Zeit. Das Land lag doch auch schon im Sterben, und die Band, die hier den Trauermarsch spielte, war ja bloß die Vorband für eine größere Beerdigung, nur ahnte das damals noch niemand. Ich stand zwischen meinen Brüdern, wir hielten uns an den Händen und gehörten zusammen. Zum letzten Mal.

MEMOIREN EINES GEDÄCHTNISLOSEN

Das ist Erik Satie. Der Franzose war nicht nur Komponist, Pianist und Minimalist, sondern auch ein begnadeter Exzentriker und Scherzkeks. Vor über 100 Jahren zum Beispiel schrieb er in seinen Mémoires d’un amnésique (Memoiren eines Gedächtnislosen): “Jeder wird Ihnen sagen, ich sei kein Musiker. Das stimmt. Schon zu Beginn meiner Laufbahn … habe ich mich zu den Phonometrographen, den Schallmessern gezählt.” An anderer Stelle informiert er uns sehr detailliert über seine täglichen Verrichtungen:

“Der Künstler muss sein Leben einteilen. Hier der genaue Zeitplan meiner täglichen Beschäftigungen:
Aufstehen: Um 7.18 Uhr. Inspiration: von 10.23 bis 11.47 Uhr. Ich nehme mein Mittagessen um 12.11 Uhr ein und stehe um 12.14 Uhr vom Tisch auf. Ersprießlicher Ausritt in den Tiefen meines Parks: von 13.19 bis 14.53 Uhr. Erneute Inspiration: von 15.12 bis 16.07 Uhr. Verschiedene Beschäftigungen (Fechten, Meditation, Reglosigkeit, Besuche, Betrachtungen, Geschicklichkeitsübungen, Schwimmen, etc.): von 16.21 bis 18.47 Uhr. Das Abendessen wird um 19.16 Uhr serviert und ist um 19.20 Uhr beendet. Es folgt symphonische Lektüre, laut vorgetragen: von 20.09 bis 21.59 Uhr. Das Schlafengehen erfolgt regelmäßig um 22.37 Uhr. Einmal wöchentlich schreckhaftes Auffahren um 3.19 Uhr (am Dienstag). Ich esse nur weiße Lebensmittel: Eier, Zucker, geriebene Knochen, Fett von toten Tieren, Kalbfleisch, Salz, Kokosnüsse, in Milchwasser gekochtes Huhn, das Schimmlige von Früchten, Reis, weiße Rüben, Weißwurst mit Kampfer, Teigwaren, (Weiß-)Käse, Salate von Watte und gewissen Fischen (nicht die Haut). Ich koche meinen Wein und trinke ihn kalt mit Fuchsiensaft. Ich habe einen guten Appetit, doch aus Angst vor dem Ersticken spreche ich nie während des Essens. Ich atme mit Bedacht (wenig auf einmal). Ich tanze sehr selten. Beim Gehen halte ich mir die Rippen und blicke starr hinter mich. Ich sehe sehr ernsthaft aus, und wenn ich lache, geschieht es unabsichtlich. Ich entschuldige mich stets dafür, und mit Leutseligkeit. Ich schlafe nur mit einem Auge, mein Schlaf ist sehr hart. Mein Bett ist rund und hat ein Loch, um den Kopf durchzustecken. Jede Stunde nimmt mir ein Diener die Temperatur und tauscht sie gegen eine andere. Seit langem habe ich eine Modezeitschrift abonniert. Ich trage eine weiße Mütze, weiße Strümpfe und eine weiße Weste. Mein Arzt hat mir immer das Rauchen empfohlen. Er fügt seinem Ratschlag hinzu: Rauchen Sie, mein Freund, sonst wird es ein anderer an Ihrer Stelle tun.”

Und nun: Drei Stücke in Form einer Birne (Trois morceau en forme de poire).

TRAGIC MAGIC

Das ist Willy de Ville. Es ist etwa zehn Jahre her, dass er im Berliner Admiralspalast-Studio von Radioeins war, um über sein Album PISTOLA zu sprechen. Es sollte seine letzte Platte und auch eines seiner letzten Interviews sein, denn wenige Wochen später, am 6. August 2009 starb er mit nur 58 Jahren. Als er bei uns im Studio war, sah man ihm die Krankheit schon an, doch er war gut drauf. Und so redete er über seltsame Zufälle (sein Freund und Produzent Jack Nitzsche starb an einem 25. August, was nicht nur der Todestag seines entfernten Verwandten Friedrich Nietzsche sei, sondern auch Willy de Villes Geburtstag), er redete über New Orleans (das niemals sterben werde und das für ihn eine Frau sei), er redete über New York in den frühen 60er Jahren (dessen Wolkenkratzer für seinen indianischen Großvater hohe Berge mit vielen Feuern wären) und er redete über einen Mann namens Paul Siebel (gegen den Bob Dylan als Sänger nichts sei).

KACHELBADS ERBE

Das ist eine brennende Ampel in einem Gemälde des Malers Hendrik Otremba, der das Bild “Kachelbad 1988” genannt hat. Die Geschichte dazu gehört zum Roman KACHELBADS ERBE des Schriftstellers Hendrik Otremba. Darin erzählt er von einem Wissenschaftler, der für ein amerikanisches Unternehmen Menschen einfriert, die im Heute nicht mehr leben können. Kryonik heißt das Verfahren, das der Hypothese folgt, man könne der eigenen Sterblichkeit ein Schnippchen schlagen, indem man sich erst dann wieder auftauen lässt, wenn Krankheiten besiegt sind und das Altern aufgehalten werden kann. Doch die Menschen, die zu Kachelbad kommen, glauben weniger an die eigene Unsterblichkeit, vielmehr sind sie Getriebene ihrer persönlichen Geschichten …
Der Roman erscheint heute und ist für mich eine der wundersamsten, beunruhigendsten, geheimnisvollsten und zärtlichsten Geschichten, die ich seit langem gelesen habe. Und sie ist aus dem leuchtenden Stoff, aus dem Weltliteratur entsteht: faszinierendes Gedankenspiel, Wissenschaft, Poesie, Philosophie, Magie.

Kachelbad im Fernsehen.

GRANDPA, DER PIXELMALER

Das ist ein Gemälde aus Pixeln. Gemalt hat es Hal Lasko aus Cleveland/Ohio im Jahr 2013. Früher hat er Wetterkarten gezeichnet, war Typograph und entwarf Schriftzüge. Als er mit zunehmendem Alter immer mehr sein Augenlicht einbüßte, schenkte ihm seine Familie einen Computer und sein Enkel zeigte ihm das Programm Microsoft Paint. Das veränderte das Leben des damals 85jährigen Mannes, den alle nur Grandpa nennen. Fortan saß er zehn Stunden täglich am Rechner und schuf seine Pixelgemälde.
Ein schönes Porträt eines erstaunlichen Mannes.